„Wo siehst du deine persönlichen Stärken?“ Während viele Arbeitnehmer diese Frage höchstens einmal in Bewerbungsgesprächen gestellt bekommen, motiviert Amazon seine Mitarbeiter dazu, sich regelmäßig mit ihren ganz individuellen „Superkräften“ auseinanderzusetzen. Eine Mischung aus Selbsteinschätzung und 360-Grad-Feedback hilft Amazonians herauszufinden was Kollegen, Mitarbeiter und Vorgesetzte an ihnen besonders schätzen – und wie sie diese Stärken noch besser einsetzen können. HR Director Bettina Günther erklärt, wie das Prinzip funktioniert und wie es die Unternehmenskultur bei Amazon und die Innovationskraft für die Kunden stärkt.

„Bei Amazon fördern wir eine Feedback-Kultur, die Positives herausstellt, Wertschätzung zeigt und nach vorne schaut, anstatt uns an Schwächen abzuarbeiten“, sagt Bettina Günther. Seit eineinhalb Jahren ist Bettina als HR Director für das Personalmanagement der Corporate Standorte von Amazon in Deutschland, Rumänien und Polen zuständig. Zuvor hatte sie bereits zwei Jahre im europäischen Headquarter von Amazon in Luxemburg gearbeitet. Mitarbeiter- und Organisationsentwicklung sind die zentralen Themen, mit denen sie sich jeden Tag beschäftigt. Die eigenen Stärken zu kennen und die anderer wahrzunehmen – für Bettina ein wichtiges Erfolgsrezept: „Wer um seine ‚Superkräfte‘ weiß, ist eher bereit, sich einzubringen, zu experimentieren und Vorschläge zu machen. Auch die Bereitschaft, Risiken einzugehen und dabei ein mögliches Scheitern zu riskieren, ist höher. Dies sind genau die Eigenschaften, die wir bei Amazon schätzen.“

Bettina Günther im Gespräch mit einer Kollegin.
Bettina Günther, HR Director für das Personalmanagement der Corporate Standorte von Amazon in Deutschland, Rumänien und Polen.
Foto von THORSTEN JOCHIM

Gibt es also auch bei Amazon Mitarbeiter, die Zweifel an den eigenen Fähigkeiten und Ideen haben? Ja, sagt Bettina: „Wir sind ein bunter Mix. Da gibt es immer auch Kollegen, die tolle Arbeit leisten, aber selbst nicht von sich überzeugt sind. Oft sind es gerade introvertierte oder perfektionistische Menschen, die an sich zweifeln.“ Mancher kenne vielleicht das sogenannte Impostor- oder Hochstapler-Syndrom aus eigener Erfahrung, also die Überzeugung, dass sich jederzeit zeigen könnte, dass man seinen Aufgaben nicht genug gewachsen ist, so Bettina. Im schlechtesten Falle halten solche Mitarbeiter ihre Innovationen unter Verschluss, weil sie nicht an sich oder ihre Idee glauben. Eine Mitarbeiterentwicklung, die sich auf individuelle Stärken konzentriert, soll dem entgegenwirken.
Eine Methode, die das Bewusstsein um die eigenen Stärken schärft, ist der sogenannte Forte-Prozess, der jährlich stattfindet: Zusätzlich zu einer Selbsteinschätzung holt jeder Amazon Mitarbeiter 360-Grad-Feedback von Vorgesetzten, Kollegen und Mitarbeitern ein. Diese geben Auskunft zu zwei Fragen: Was sind die Superkräfte dieses Kollegen? Und: Welche Ideen zur Weiterentwicklung gibt es? Laut Bettina schätzen Amazonians diese Art des Feedbacks sehr: „Auch, wenn es am Anfang für neue Mitarbeiter ungewohnt ist, so viel Rückmeldung zur eigenen Person zu bekommen, wird Forte im Ergebnis als positive Bestärkung gesehen. Denn man bekommt Anerkennung für die geleistete Arbeit und einen Boost für das Selbstvertrauen. So erhält jeder die Gelegenheit, ganz individuell festzulegen, wie die eigenen Stärken weiter ausgebaut und für den gemeinsamen Erfolg genutzt werden können.“ Für die persönliche Weiterentwicklung sei das unverzichtbar.

Auch die Feedback-Kultur bei Amazon allgemein orientiere sich am Forte-Prinzip, sagt Bettina: „Die Ausrichtung auf die Stärken des Mitarbeiters im Forte Prozess hat auch im Alltag dazu geführt, dass Vorgesetzte und Kollegen mehr darauf achten wie sie wirksam Feedback geben und dabei auch ihre Wertschätzung für gute Arbeit zum Ausdruck zu bringen.“

Zusätzlich wird das Selbstvertrauen der Mitarbeiter durch Amazons ausgeprägte Fehlerkultur gestärkt: „Bei uns sollen alle die Möglichkeit bekommen, mutiger zu werden und sich zu trauen, auch einmal falsch zu liegen. Nur wer Fehler macht und aus ihnen lernt, kann erfolgreich sein“, sagt Bettina. Wenn Scheitern Normalität sei, falle es auch Perfektionisten leichter, ihre Vorschläge einzubringen. Eine besondere Meeting- und Entscheidungskultur sorgte außerdem dafür, dass gute Selbstinszenierung kein Pluspunkt bei der Ideenvorstellung sei: „Wir wollen eine Kultur schaffen, in der kein Vorschlag perfekt sein muss und in der die Idee zählt – nicht die Art der Präsentation.“

Herausforderungen wählen, mit denen man scheitern könnte, Feedback einfordern und das ausbauen, was einen besonders macht – das sind auch Bettinas persönliche Tipps für mehr Selbstvertrauen in der Arbeitswelt: „Man muss nicht immer Recht haben, um einen Beitrag zu leisten. Was zählt, ist der Erkenntnisgewinn im Team.“